Die Vereinzelungsanlageningenieurin wusste nicht so richtig, wie sie das geworden war, was sie geworden war. Aber sie war sich sicher, dass sich ihr Lebenslauf nicht grundlegend von dem ihrer Klassenkamerad:innen unterschied, die Bankkaufleute, Lehrer:innen, Versicherungsvertreter:innen, Ärzt:innen, Buchautor, Jurist:innen oder auch einfach nur Hausfrau:innen wurden, manche früher, manche später. Nach ihrem Studium hatte sie eine erste Anstellung in einem Architekturbüro gefunden und war dann zu einem Wohnungsunternehmen gewechselt; dort hatte sie die Aufgabe, den Eingangsbereich zu einem Unternehmensmuseum zu designen. Sie saß in einer großen Halle mit ihren Kolleg:innen und ihrem Chef zusammen und seufzte manchmal, wenn ihre Konzentration nachließ. Sie saß eigentlich fast den ganzen Tag konzentriert an ihrem Computerprogramm, zeichnete Linien und Körper mit Linien, verwarf sie, gruppierte sie neu, erinnerte sich an andere Eingänge, die sie in ihrem Leben schon gesehen hatte.
Sie versuchte, die Tore und Türen abzugleichen mit den großen Eingangsportalen von Veranstaltungshallen, die sie zu Konzerten besucht hatte, für Messe und Ausstellungen, dachte an Museen ihrer Jugend, Schulen oder an den Gerichtssaal, genauer an das Gerichtsgebäude, in dem ihre Scheidung nach kurzer, irrtümlicher Ehe damals besiegelt worden war. Diese Räume entfalteten sich vor ihrem inneren Auge und leuchteten in völlig unterschiedlichen Formen und Farben dort auf, wurden ein- und ausgeblendet, blitzten auf, kurz und stroboskopartig, manche blieben wie hinter einer Milchglasscheibe, so dass sie nicht genau wusste, wie sie aussahen. Am Ende entschied sie sich für einen Entwurf mit schmalen Stelzen, die zum Eingangsdach in fünf Meter Höhe führten. Stelzen, die an den Haupteingangstüren weiter auseinanderstanden und umso enger wurden, wenn man dem Weg zum eigentlichen Eingang neben einem Empfang folgte. Ganz unmerklich würden sich die Menschen von einem Nebeneinander Hergehen zu einem Gänsemarsch formieren. Und dann mussten sie vor einer elektronische Schranke stehenbleiben.
Das Kalb war jetzt 22 Wochen alt, hie war mit heinen Freunden manchmal in einem kleinen Stall gewesen, aber freute sich immer wieder aufs Neue, auf diese grüne Wiese zu kommen, dort zu grasen, zu liegen, wiederzukäuen und sich von Zeit zu Zeit an Gruppenspielen zu beteiligen, die üblichen Rangeleien in der Herde halt. Heute war hie jedoch von einem dieser Menschen abgeholt worden, man hatte hie durch die enger werdenden Zäune auf einen dieser rollenden Wagen geleitet und diesen dann hinter hie abgeschlossen. Hie atmete etwas schneller als sonst. Die Fahrt dauerte einige Zeit, hie hatte das Zeitgefühl verloren, was hie sonst immer hatte: eine Einheit grasen, eine Einheit spielen, eine Einheit wiederkäuen, vier Einheiten nachts im Stall liegen – das alles gab es gerade nicht. Hie war verwirrt. Hie wurde ausgeladen, was hie immer schwer fiel, rückwärts diesen Wagen verlassen ohne zu sehen, was da hinter hie war. Es gelang auch diesmal. Ein Mensch winkte hie in Richtung eines großen Gebäudes.
S/Hie ging durch den Haupteingang, es war ein beeindruckendes Gebäude. Wenn man aufschaute sah man gar nicht das Ende im Himmel. S/hie schaute nach oben und sah kein Ende im Himmel. Nun ging es wieder vorwärts, nach und nach auf diese Stäbe zu, hinter denen es unheimlich still war. Eine Schranke hielt s/hie auf und s/hie blieb stehen wie geheißen. Undeutlich hatte s/hie Bilder vor ihren großen Augen. Himmel, Bäume, Gras – Wind, der hie/ihr durch Fell / Mantel fuhr. Ein Frösteln am Körper, der Schauder der ersten Liebe, ein unglaublicher Moment der Erinnerung, an die ganz frühe Jugend. Die Schranke wurde aus dem Weg gedreht. S/hie wusste, was zu tun war. Schritt für Schritt ging s/hie vorwärts. Der Gang wurde dunkler und s/hier kam auf ein sich bewegendes Band, das s/hie in die Höhe transportierte. Etwas hing im Weg, s/hier ging darunter durch und stand still. Ein großer Raum öffnete sich vor hie/ihr. Alle Bilder aus den vorherigen Gedanken wurden lebendig, s/hie schaute sich um und dachte: ich bin im Himmel, aber ich bin verloren.
Soft Cell / Memorabilia / https://youtu.be/AD9DYtBkvVc
Joy Division / She’s Lost Control / https://youtu.be/FD2SfQJOK08