Wir fahren mit dem Bus durch die Vororte von Berlin Spandau. Es ist ein Freitagnachmittag. Die Fahrt wird des Öfteren von Baustellen unterbrochen. Wir stehen lange vor einer roten Ampel. Links und rechts schweift der Blick, versucht es zumindest, bleibt schnell hängen, wird abgefangen. Grund dafür sind allein stehende Häuser mit Anzeichen von Alarmanlagen, rote Drehwarnleuchten vor weißer Fassade. Einbruchshauptstadt ist nah, Angst anscheinend auch. An dorischen Säulen im Eingangsbereich wird irgendetwas sichtbar, sicherlich nicht so etwas wie Geschmack. Zudem weiß ich genau, wie diese Häuser im Inneren riechen, welche Feuchtigkeit sich seit Jahrzehnten in ihnen ausgebreitet hat. Eine Klammheit, die von den Bewohnern nicht mehr wahrgenommen wird. Säulen, die nichts stützen und die sogar in dieser Vorstadtatmosphäre deplatziert wirken. Doch es gibt Trost auf den Bussitzen: der Klimawandel wird sehr bald schon hierüber hinwegfahren wie eine heiße Welle Luft, 200 Meter hoch und alles mit sich reißend, so dass da kein Nass und kein Trash mehr sein wird. Kein Schimmelpilz, der aus den Wänden erwächst, kein Zebrafell oder Eisbärimitat, keine tote Kuh, über die der Butler stolpert, nur Wärme, Staub und Trockenheit.
Noch kurze Zeit vor diesem Hitzetsunami durfte kein freier Platz mehr in einer Wohnung sein. Es gab schon immer Regeln für die Wohnungseinrichtung. Es gab und gibt sogar Zeitschriften, die solche Regeln selbst aufstellen und dann verkaufen. Nur wenn alles in der Wohnung oder dem Haus vollgestopft war, strahlten die Wohnenden. Nur dann galt in jener noch kühlen Zeit nach durchschnittlichen Nutzermaßstäben alles als richtig schön warm eingerichtet. Nun wird stattdessen der horror vacui in die Spandauer Haushalte einziehen – ja – müssen. Angesichts der Hitzewellen muss innen jetzt alles kühl und leer sein. Und man wird sich an eine andere Zeit erinnern, als man sich nicht noch entschieden hatte, für diese oder jene Wandbehänge, für Sofas mit Beistelltischchen aus Rauchglas, Wagenräder als Lampen oder als Tischunterbau, Wildschwein- und Rehfelle an den Wänden. Weniger wird dann mehr sein, in jener nahen Zukunft.
So wie alsbald Häuser nicht mit Styropor als Kälteschutz eingepackt werden müssen, entfällt auch für den menschlichen Körper die Klimaschutzfunktion von Kleidung. Körper wollen nun frei sein, zumindest nicht mehr völlig eingehüllt sein – und können es auch. Kälteschutz ist nicht mehr die Primärfunktion von Kleidung. Kleidung hat nun bald schon andere Funktionen, vielleicht wird sie sogar funktionsfrei wie es Mantelwesten einst waren. Ich berichtete schon an anderer Stelle von diesen Ausprägungen menschlicher Bekleidungsweisen. Und dann dieses: Mantelwesten ergeben plötzlich nach all den Jahren Sinn. Sie müssen nun nicht mehr schützen, sondern können einfach nur getragen werden. Es ergibt genauso wenig mehr Sinn, Häuser vollständig einzupacken. Am Ende gibt es Mantelwesten für Alle: Hunde – Menschen – Häuser. Denn nur ein kleiner Reminder: auch für Hunde waren Mantelwestchen, diese tierischen Kleidungsstücke, bislang Nofunction-Wäsche. Hunde kannten keine menschliche Scham und frieren mussten sie auch nicht, wenn sie zumindest etwas durch ihr Fell geschützt waren. Also war auch die canislupale Weste eher funktionslos. Die Menschheit war schon immer groß darin, anderen Teilen der Mensch- und Tierheit sinn- und nutzlose Dinge anzudrehen. Die Funktionslosigkeit der Mantelwesten hält so lange an, bis ein verkaufstüchtiger Mensch darauf kommt, dass wir dringend Style brauchen oder nun die entgegengesetzte Funktion von Kleidung: angenehme Kühle im Körper und im Haus.
Wie nun solche sinnfälligen Mantelwesten für Häuser aussehen könnten? Auf der Klimakonferenz COP23 in Dubai werden schon bald erste solcher Leichtverkleidungen vorgestellt. Und während bei manch‘ sommerlich gekleideten Konferenzteilnehmer*innen Ruhrgebietler einen Satz mit „einfältig“ angebracht hätten („Pass auf – ein fälltich gleich raus„), sagt die Jugend der Menschheit eher solche Dinge wie: „Digger, Du hast meine Jacke gesaved!“ – und sie meinen es auch so. Die Leichtverkleidungen für Häuser mögen aktuell noch recht schwerfällig daherkommen, mehr so wie dicke Wolldecken aus Dämmstoff. Doch schon lugen serielle Verfahren um die Hausecke, die dazu führen, vorfabrizierte Fassaden vor die alten zu hängen, sie also neu einzukleiden. Und auf diesem Wege entsteht wiederum das neue Massenproduktionsphänomen, Häuser nur noch vorne und hinten einzukleiden, nicht jedoch an den Seiten. Ihnen fehlen dann sozusagen die Ärmel. Wieder also nur ein alter Mantel für eine Zukunft, die nie kam. Dafür aber die Jacke ohne Arme gerettet. Und Hauptsache, die Welt gerettet – wodurch ist ja in dieser Hinsicht Jacke wie Mantelweste.
Und bald also: Orangenbaumblüten in Spandau, Häuser in Jacken ohne Arme, an den Alarmanlagen arbeiten wir dann demnächst. Die Säulen bröckeln.
Westen und Ähnliches:
Peter Fox / Es gibt kein Regen in Dubai / https://youtu.be/ZCz3bH0zPQg?si=-6hBPZOqyM_bBUXx
Sophie Hunger / Das Neue / https://youtu.be/Ed8jLkUxufE?si=TzZeBYItbQTwXbxd
Indeep / Last Night (A DJ Saved My Life) / https://youtu.be/GtfZbj4J71A?si=jdAbjeeOucEV8cJC
Gary Clail / Food, Clothes And Shelter / https://youtu.be/dVZu2KR2MAI?si=_MbKDIfzLuwpO_Pb
